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Börsennotizbuch

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Die Formel, die Wall Street gekillt hat

4. März, 2009 · 12 Kommentare

Revolver

Es dürfte in diesen Tagen besonders schwer sein, sich als Investmentbanker bei einer Party vorzustellen. Es gibt wohl kaum einen anderen Beruf, der hässlichere Blicke und so manch zynischen Kommentar verursachen würde. Zum Glück ist der Berufsstand der Finanzmathematiker unter dem gängigen Party-Publikum nicht so bekannt. Denn dann könnte es sogar zu Handgreiflichkeiten kommen.

Die Sache, wissen Sie, ist wie folgt:

Finanzmathematiker schuldig für das Wall Street Desaster

Hierzu möchte ich auf einen besonders guten Artikel von Felix Salmon verweisen: Recipe for Disaster: The Formula That Killed Wall Street. Jedem, der der englischen Sprache mächtig ist, empfehle ich diesen spannenden Text. Für alle, die ihn nicht im Original lesen können (oder wollen), werde ich hier einige Punkte notieren:

Der Kern des Problems liegt im notorischen Verlangen der Wall Street danach, das Risiko eines Investments genau zu quantifizieren.

Das Risiko an sich ist für die Finanzakteure nicht das Problem. Die Investoren mögen das Risiko, sie wollen es aber zu gern genau kennen. Ich meine: Auf die n-te Kommastelle genau. Deswegen sind quantitative Modelle so populär — sie bieten den “schlauen” Wall Street Boys ein Instrument an die Hand, mit welchem sie die Preise der Assets (ohne dabei groß nachzudenken) bestimmen und ihre Entscheidungen daraufhin treffen können (oder den Computern überlassen).

Quantitative Modelle sind daher seit eh und je “in”. Es war nicht viel anders in den 80er (der Crash von 1987 ist auch zum Teil dem automatisierten Computerhandel geschuldet), in den 90er (Sie erinnern sich doch an die “unfehlbaren” Methoden des LTCM-Fonds?), so war es auch dieses Mal: Die Wall Street hat sich auf ihre Modelle verlassen, bis die Realität sie einfach zerschlug.

Bei unserem Fall spielte eine neue Formel die entscheidende Rolle: Die sog. Gaussian copula function.

Und so sieht das Biest aus:

Gaussian Copula Formula

Quelle: Wired.com, Artikel oben, auf Seite 4 werden die Bestandteile der Formel kurz erläutert.

(Damit sie das Fürchten lernen: Wikipedia zu Copula — engl. und deutsch; oder auch zum Dokument “On Default Correlation: A Copula Function Approach” (PDF) von David X. Li, April 2000).

Ihr Erfinder war Mr David X. Li, ein gebürtiger Chinese, der beeindruckende Karriere als Finanzmathematiker machte und als der Vater der finanzmathematischen Anwendung der Gaussian copula function gilt. Diese Formel ist die Grundlage der Bewertungsmodelle praktisch aller CDOs (collateralized debt obligations, die Assets, die uns gerade mächtig um die Ohre fliegen) und wird überall an der Wall Street angewendet (hoffentlich nicht länger). Die Methode von Mr Li sei vor einigen Jahren als großen Durchbruch gefeiert, der “unvorstellbare” neue Möglichkeiten in der Investmentbrache eröffnete.

Aber zunächst müssen wir auf unsere Investoren zurückkommen, speziell auf die Bond-Investoren.

Die klassische Anleiheninvestition funktioniert so: Man verleiht Kapital gegen Zins und Tilgung bei Fälligkeit. Dabei haben die unterschiedlichen Schuldner natürlich unterschiedliche Bonität. Ãœbersetzt auf “Finanzmathematisch”: Es gibt unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten, dass sie ihre Schulden nicht bedienen können. Das ist trotzdem kein Ding, solange man die Wahrscheinlichkeiten beziffern kann.

Investoren kaufen Wahrscheinlichkeiten

Ja, das kennen wir: Für mehr Risiko, mehr Rendite — es ist ein Deal. Die Investoren verhalten sich in diesem Fall wie die Bank im Casino, indem sie auf einen positiven statistischen Erwartungswert setzen. Auf diese Weise werden viele Milliarden in Potfolios von Anleihen investiert. Hier wird schon klar, wie schön und handlich exakte Wahrscheinlichkeiten sein können.

Bei den Hypotheken ist es ähnlich, nur sind diese etwas schwierigere Konstrukte: Es gibt keine garantierte Zinszahlung, denn die Einnahmen hängen davon ab, wie viele Menschen ihre Raten bedienen, wie viele eine Refinanzierung in Anspruch nehmen, wie viele ihr Haus verkaufen etc. Es gibt zudem große regionale und lokale Unterschiede. Man kommt kaum klar…

Was seit längerem praktiziert wird, ist in Hypotheken-Pools zu investieren, aber wegen der mangelnden Quantifizierbarkeit, wurden ausschließlich die sichersten Hypotheken von Freddie Mac und Fannie Mae gekauft, da sie staatlich garantiert waren.

Irgendwann hatten die Bond-Investoren (darunter Rentenfonds, Hedge-Fonds, Unternehmen, deutsche Landesbanken etc.) so viel Geld, dass sie sich händeringend nach neuen festverzinslichen Papieren umschauten (gern mit ein bisschen mehr Zins, versteht sich). Hier bot sich der Hypothekenmarkt mit seinem riesigen Volumen gut an, nur man musste diese verflixte Sache mit den Wahrscheinlichkeiten in den Griff kriegen, um großen institutionellen Investoren die Anlage zu ermöglichen.

Wall Street ließ sich etwas einfallen — sie bildete (im ersten Schritt) Pools von Hypotheken, unter welchen die Einnahmen nach vordefinierter Reihenfolge verteilt wurden. In einem Pool werden (ähnlich wie bei einem Index) die individuellen Ausfallraten ausbalanciert: Einzelne Hypothekennehmer können aus individuellen Gründen (Job-Verlust, Krankheit etc.) ausfallen, aber doch nicht alle gleichzeitig — die große Masse im Pool verleiht eine statistische Stabilität.

Leider gibt es nicht nur individuelle Ausfallgründe, sondern auch welche, die gleich viele Menschen betreffen. Dann spricht man von Korrelationen. So nach dem Motto: Wenn dein Nachbar seine Raten nicht zahlen kann, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass du selbst nicht zahlen kannst, auch.

Um einfacher zu begreifen, worum es geht, übernehme ich das anschauliche Beispiel von Felix Salmon (natürlich nur verkürzt):
 

Alice ist eine Schülerin. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ihre Eltern in diesem Jahr scheiden lassen, ist 5%. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie von Kopfläusen befallen wird (Felix denkt sich Beispiele aus!), ist auch 5%. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sieht, wie ihre Lehrerin auf einer Bananenschale ausrutscht, ist ebenso 5%. Und schließlich: Die Wahrscheinlichkeit, dass Alice den diesjährigen Spelling-Bee-Wettbewerb gewinnt, ist wiederum 5%.
 
Sollten also Investoren irgendwelche Assets handeln, die auf diesen Ereignissen bzw. Wahrscheinlichkeiten basieren, müssten alle ungefähr den gleichen Preis haben.
 
Aber es passiert etwas wichtiges, wenn wir nicht nur Alice allein, sondern noch ein zweites Kind berücksichtigen — Britney, ihre Klassenkameradin:
 
Wenn sich die Eltern von Alice scheiden lassen, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Bitneys Eltern auch scheiden lassen? Ebenso 5%? Ok, die Korrelation ist nah an Null. Aber wenn Britney von Kopfläusen befallen wird, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch Alice welche kriegt? Mehr als 5%. Sie sind in einer Klasse (sie sitzen vielleicht nebeneinander)! Also, die Wahrscheinlichkeit steigt auf — sagen wir — 50%; es gäbe eine Korrelation von +0,5. Mit der Lehrerin ist es analog: Da sie beide in der Schule die meiste Zeit zusammen verbringen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass beide ihre Lehrerin auf der gemeinen Banenschale ausrutschen sehen, groß. Also wenn Alice es sieht, wird es auch Britney sehen — mit zum Beispiel 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit. Die Korrelation beträgt +0,95. Schließlich: Wenn Alice die Spelling Bee in diesem Jahr gewinnt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Birtney es tut, exakt Null. Die Korrelation ist -1.
 
Wenn die Investoren also Assets handeln, die auf einer Kombination von (gleichzeitigen) Ereignissen basieren, werden die Preise ganz, ganz unterschiedlich ausfallen, denn die Wahrscheinlichkeiten springen wie wild herum.

In der Wirtschaft (und bei den handelbaren Assets) sind nicht nur die Wahrscheinlichkeiten sehr schwer zu ermitteln, die etwaige Korrelation zwischen unterschiedlichen Entwicklungen sind eigentlich unmöglich zu bestimmen. Die Daten sind äußerst knapp, ungenau, die Komplexität enorm… Mit einem Wort: Ein Ding der Unmöglichkeit.

Nichts ist unmöglich!

Li hatte den “genialen” Einfall, wie man die Korrelationen bestimmen kann, ohne einen Blick auf historische Datenreihen werfen zu müssen, mühsame Forschungen zu betreiben und sich sonstige Unannehmlichkeiten anzutun. Der Trick: Man schaut auf die Credit Default Swaps (CDS), auf den Markt für Ausfallrisiken also, und leitet die notwendigen Korrelationen daraus ab.

Wenn ein CDS teurer wird, ist das Risiko eines Ausfalls des unterliegenden Produkts gestiegen. Meint der Markt. Und diese Meinung wurde in die Formeln aufgenommen, ohne weitere Nachforschung. Der Markt musste es schließlich wissen.

Das war eine “brillante” Simplifizierung eines in der Realität unlösbareren Problems. Das Ergebnis (etwas überspitzt): Wall Street konnte fast alles so bündeln, das am Ende ein Triple-A-Bond herauskam… Man musste nur Assets mit passenden Korrelationen auswählen (und die Korrelationen lieferten die CDS).

Vielleicht ein kleines Beispiel aus der Finanzwelt: Der Goldpreis in USD korreliert (“gewöhnlich”) negativ mit dem EUR/USD Wechselkurs. Steigt der Dollar, fällt das Gold — häufig. Also kann man sich ein Konstrukt aus, sagen wir, Gold- und EUR/USD-Futures vorstellen, das eine relative Wertstabilität gegenüber den beiden Komponenten aufweist. Und wie sieht es mit EUR/USD und 10-jährigen US-Bonds aus? Wenn man auch sie dazu beimischt, könnte eine noch “sicherere” Rendite herausspringen… Und so weiter.

Auf diese Weise konnten Produkte “synthetisch” kreiert werden, die die Eigenschaften einer Investment-Grade-Anleihe “simulierten” (eher: vortäuschten) und dabei keine einzige oder nur wenige echte Investment-Grade-Komponenten besaßen. Dies eröffnete Wall Street ganz neue Möglichkeiten, “schlechte” Assets abzusetzen — die riesigen Investment-Pools von Hedge Fonds, Universitäten, Versicherungsgesellschaften und vielen anderen institutionellen Investoren konnten angezapft werden, da die formelle, mathematische Quantifizierung des Risikos vorlag und (sehr wichtig!) noch dazu von den Rating-Agenturen testiert worden war.

Das finanzmathematische Desaster

Bankers securitizing mortgages knew that their models were highly sensitive to house-price appreciation. If it ever turned negative on a national scale, a lot of bonds that had been rated triple-A, or risk-free, by copula-powered computer models would blow up. But no one was willing to stop the creation of CDOs, and the big investment banks happily kept on building more, drawing their correlation data from a period when real estate only went up.

Zitat aus dem oben erwähnten Artikel

Es ist nicht so, dass man vor diesen Konstrukten nicht gewarnt worden war. Noch sehr frühzeitig äußerten einige Finanzanalysten massive Bedenken und Warnungen: Die Korrelationen zwischen Finanzinstrumenten sind äußerst instabil. Die Modelle, die darauf aufbauen, ebenso.

Die Banken wussten es (oder mussten es wissen), aber das Geld floss so leicht und in solchen Mengen, dass keiner aufhören wollte. Die Korrelationen, die aus einer bestimmten Periode abgeleitet wurden, produzierten eine Zeitlang beträchtliche Gewinne. Nur, die Korrelationen erwiesen sich am Ende in der Tat als instabil und illusorisch. Sie haben nicht das Risiko gemessen, sondern etwas völlig anderes… Als die Hauspreise aufhörten zu steigen und fingen gar an zu fallen, drehte alles. Auf einmal stürzten die ganzen Prämissen der Modelle in sich zusammen. Auf einmal korreliert der eine Junk-Bond mit dem anderen Subprime-Produkt nicht mehr negativ (sprich: gegenläufig), sondern sie fallen beide zusammen. Was bis gestern per “Computersimulation” noch eine sichere Anlage sein sollte, war heute nur noch Schrott…

Den Rest kennen wir… Das Ende der Story — leider noch nicht.

Vielen Dank, dass Sie bis Ende gelesen haben.

Bild am Anfang: stock.xchng

Kategorien: Analysen · Frontpage

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12 Kommentare bis jetzt ↓

  • finanz888 // 4. Mrz, 2009

    Gratulation, ein absolut Super Artikel. Er widerspiegelt die Denkweise der Finanzmathematiker. Als ehemaliges “Gildenmitglied” und Finanzanalyst und Fonds Manager “musste” auch ich so denken…

  • Nico // 4. Mrz, 2009

    Super Artikel, werde gleich darauf verweisen. Vorweg noch eins: In Deiner Ãœberschrift hat sich ein Tippfehler eingeschlichen. Bei uns Bloggern scheint die Tage der Ãœberschriften-Fehlerteufel unterwegs zu sein – gestern sah ich den Dax gar unter 6700 Punkten ;)

  • Saviano // 4. Mrz, 2009

    Danke.

    Dein Dax unter 6700 ist schon richtig, keine falsche Info… ;-)

  • Nico // 4. Mrz, 2009

    Aber gestern eben eine Info mit geringem Informationsgehalt :p

  • Aktien-Blog » Die Finanzmathematik ist schuld: So rechnete sich die Wall Street die Wirklichkeit schön // 4. Mrz, 2009

    [...] Börsennotizbuch geht in einem interessanten Artikel auf die Finanzmathematik ein, die seit Jahren versucht, anhand komplexer quantitativer Modelle das Risiko von Portfolios zu [...]

  • fondsinteressent // 4. Mrz, 2009

    Sehr interessant, das mal aus dieser Perspektive zu sehen. Aber letzten Endes ist es wieder ein menschlicher Fehler gewesen, anstatt der Korrelation die Ausfallquoten zu nehmen. Es wäre wünschenswert, dass daraus gelernt wird und nicht immer versucht wird, alles in einer einfachen Formel darstellen zu wollen…

  • christoph // 4. Mrz, 2009

    sehr interessant, tatsächlich. Bei dieser Gelegenheit auch ein großes Lob an den Betreiber dieses blogs! Ich besuche die seite seit einiger Zeit regelmäßig und finde sie sehr gelungen und informativ – weiter so!!

  • Saviano // 5. Mrz, 2009

    Die Finanzmathematiker haben unter anderem ein sehr wichtiges Gesetz ignoriert:

    Murphys Gesetz | Murphy’s Law

    Allgemeine Gesetzmäßigkeiten:

    Sie beruhen auf folgenden, tagtäglich zu beobachtenden Erfahrungen:

    1. Wenn etwas schiefgehen kann, dann geht es schief (Hauptregel).

    2. Wenn etwas auf verschiedene Arten schiefgehen kann, dann geht es immer auf die Art schief, die am meisten Schaden anrichtet.

    3. Hat man alle Möglichkeiten ausgeschlossen, bei denen etwas schiefgehen kann, eröffnet sich sofort eine neue Möglichkeit.

    4. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt, ist umgekehrt proportional zu seiner Erwünschtheit.

    5. Früher oder später wird die schlimmstmögliche Verkettung von Umständen eintreten.

    6. Wenn etwas zu gut erscheint, um wahr zu sein, ist es das wahrscheinlich auch.

    Aus Wikipedia.
    ;-)

  • Staatsbankrotrisiken: Aktuelle CDS-Spreads • Börsennotizbuch // 1. Okt, 2009

    [...] Eine ergänzende Antwort: Die institutionellen Anleger operieren wieder mit (blöden) Modellen, die “maschinell” einen Kauf empfehlen bzw. gleich ausführen (s. Kommentar bei Herdentrieb; zu den Korrelationen, die uns die Krise brachten — hier) [...]

  • The Next Big … Problem? — High Frequency Trading • Börsennotizbuch // 1. Okt, 2009

    [...] bestimmt auf unangenehme Weise beschäftigen wird — High Frequency Trading (denn es sieht danach [...]

  • Mensch oder Markt? • Börsennotizbuch // 25. Nov, 2009

    [...] Anleger nolens volens wieder die Effizienzmarkttheorie heraus packen und auf deren Basis ihre (manchmal tödlichen) Modelle konstruieren [...]

  • tina // 18. Dez, 2009

    die wall street sucht inzwischen verstärkt nach top professionellen pokerspielern (als kontrast zur gauß formel ;-) )

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