Man muss echt nicht lange suchen, um mit einer ziemlichen Menge Artikel über die “Sinnkrise” und den Untergang des Kapitalismus überschüttet zu werden. Und nein — nicht auf den Seiten der “üblichen Verdächtigen”, sondern ganz prominent in den sog. Leitmedien. Wenn nicht gerade auf das “Ende des Kapitalismus”, dann stößt man wenigstens auf das “Ende der Welt, wie wir sie kennen”…
Wenn Sie mich fragen: Keine Frage, wir sind in einer heftigen Krise; die Banken taumeln; die Verluste häufen sich zu Bergen; die realwirtschaftlichen Parameter verschlechtern sich schnell und stark. Und wir werden mehr Staat und Regulierung in den krisengeschüttelten Branchen bekommen (weil sie kurzfristig ohne den Staat einfach kaum zu retten sind), wir werden Business- und Finanzmodelle auf den Prüfstand sehen, aber was wir nicht bekommen werden, ist eine derartige Veränderung des Systems, die auch im Entferntesten mit dem “Ende des Kapitalismus” oder dem “Ende der Welt, wie wir sie kennen” zu tun haben wird.
[ Ich meine, abgesehen davon, dass "man nicht zweimal in denselbigen Fluß steigen kann" (Heraklit). ]
Nur ein paar Sachen von den letzten wenigen Tagen:
- Die DDR wird immer schöner (Welt).
- “In 30 Jahren wird es keinen Kapitalismus mehr geben” (Telepolis/Heise)
- Gott statt Kapitalismus (Stern).
- Gut, es geht auch etwas konservativer: Capitalism Should Return to Its Roots (Wall Street Journal).
Ich habe mir aber noch die Mühe gemacht, ein paar Artikel aus etwas älteren Archiven herauszuholen, um meinen Gedanken zu illustrieren.
So gut wie immer, wenn die Wirtschaft in eine ernsthaftere Krise geraten ist, hat es etwas mit Gier, Verantwortungslosigkeit, betrügerischer Finanzierung, im Falle Amerikas (scheinbar stets) mit Konsumlust, Schulden und “überbordenden Defiziten” zu tun gehabt. Und immer bekamen die Menschen (ganz selbstverständlich) Angst, verspürten Wut und — falls die Krise wuchtiger ausfiel — sahen das Ende des Kapitalismus heranschreiten…
Bei meinem “Ausflug” in den 70er und 80er gewann ich den Eindruck, dass in den Krisenzeiten auch entsprechende “Ende-des-Kapitalismus”-Bücher auf einmal populär wurden und man sogar ernsthaft über Marx diskutierte. Welche Beispiele soll ich herauspicken? — Vielleicht nur diese vier (die bestimmt nicht die besten sind, aber zur Illustrierung reichen sollen):
- Erstmal “grundsätzlich”: Can Capitalism Survive? (Time, 1975):
Yet today the heirs of that revolution cannot celebrate in triumph. As capitalism approaches its bicentennial, it is beset by crisis. Increasingly, its supporters as well as its critics ask: Can capitalism survive?
- Blindlings ins Verderben (?) — hört sich aktuell an, war aber Leitmotiv vieler 1974er Schriftstücke: Running in Blinkers (Guardian, 1974) [Blinkers = Scheuklappen]:
Out of this crisis, depending on the way it is handled and by whom, there could come an economic order and society markedly different from the order we have inhabited since 1945…
- Und natürlich zweifelt man die Wachstumsmöglichkeiten und -fähigkeiten des (kapitalistischen) Systems an (wissenschaftlich und historisch fundiert, versteht sich) — What in the World Is Wrong? (Time, 1982):
What went wrong? Some scholars have begun to think that the strong postwar growth may have been a historical fluke created by special circumstances. Says Harvard Historian Charles Maier: “Previously, Europe had gone through 500 years of history without a real concept of economic growth at all. Good years and bad years tended to balance each other out. In the 1950s and the 1960s the Western economies benefited from a great number of conditions that in retrospect seem quite unique.”
- Und der Gewinner ist?… Socialist Winner (New York Times, 1982):
Mr. Mitterrand naturally speaks a good deal about his own socialism. As he views it, capitalism’s present dangerous crisis comes from its own self-destructive tendencies. Economic concentration, he argues, has proceeded until the huge multinational centers of economic power not only destroy individual initiative and free enterprise but escape political control. These mindless giants, relentlessly pursuing profit, threaten to grind up both the social community and the land itself. For France to survive, Mr. Mitterrand believes that socialism must mobilize and reassert the national community.
Bei dem Ganzen soll man (natürlich) nicht zu akademisch werden. (Begriffe und Definitionen kann ich zur Not auch selber ausdehnen und aushöhlen). Kapitalismus, Marktwirtschaft und (das Wichtigste) Demokratie werden (und müssen) bleiben. Es wird keine “Zäsur” geben, sondern Justierungen und Fortschritt. Und wenn es den Menschen wieder besser geht, werden sie das Krisen- und “Ende des Kapitalismus”-Gerede vergessen… Darauf kann man eher vertrauen…
- Und bevor wir uns zu langweilen beginnen: Hat jemand nähere Infos, ob unsere Banker-Jungs in Frankfurt für “gewisse Dienstleistungen” auch nicht Rabatte bekommen: “… some of the “VIP” providers are offering ‘Wall Street adjusted courtesy rates’…” (Sex workers in the recession, Economist.com).
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